Schelsky-Terminliste
Der Soziologe Helmut Schelsky, einer der einflussreichsten Soziologen der jungen Bundesrepublik und „Stichwortgeber des Zeitgeistes“ (Clemens Albrecht in Erneuerung des Wortes von Ludolf Herrmann) gilt als der „Planer“ der Universität Bielefeld. Am 9. März 1965 beauftragte NRW-Kultusminister Paul Mikat Helmut Schelsky, der 1963 mit „Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen“ (1963) ein Werk über die seiner Meinung nach noch immer gültigen Humboldt‘schen Bildungsideale und die Notwendigkeit höchstrangiger interdisziplinärer Forschungsinstitutionen vorgelegt hatte, mit der vorbereitenden Planung zum Aufbau einer vom Wissenschaftsrat angeregten Universität in Ostwestfalen.
In nur wenigen Monaten führte Schelsky über 70 Gespräche mit Personen, die für den Aufbau der Universität relevant waren und dokumentierte dies in einer „Terminliste“, die für den Zeitraum vom 20. Januar 1965 bis 6. Januar 1966 insgesamt 71 Termine auflistet. Quasi im Alleingang konnte Schelsky bereits Anfang Juli 1965 in der Terminliste vermerken „Erste Etappe abgeschlossen“ (Personalgewinnung) und im August eine überarbeitete Fassung seines Strukturvorschlags für ein durchaus kühnes Reformkonzept der ostwestfälischen Universität vorlegen.
Hochschulporträt
Die späten 1960er und 1970er Jahre waren die Hochphase der Hochschulneugründungen in der Bundesrepublik Deutschland. Insbesondere das Land Nordrhein-Westfalen gründete in dieser Phase eine ganze Reihe von Universitäten, Gesamthochschulen und Fachhochschulen. Der Gründungsprozess der mit besonderen Reformansprüchen gestarteten Universität Bielefeld wurde dabei auch filmisch begleitet. „Das Hochschulporträt Bielefeld“ wurde im Dezember 1969 ausgestrahlt, stellte in einer halben Stunde die nun neue Universitätsstadt Bielefeld vor und ließ die Protagonisten die Reformansätze der ostwestfälischen Universität erläutern.
Der erste Ausschnitt stellt die Universität allgemein vor.
In einem zweiten Ausschnitt beschreibt der Planer der ostwestfälischen Universität, der Soziologe Helmut Schelsky, das für Deutschland innovative „Zentrum für interdisziplinäre Forschung“, das zunächst seinen Sitz im Schloss Rheda hatte.
Der dritte Abschnitt zeigt Kurzinterviews mit Bielefelder Bürger und Bürgerinnen und ihre Erwartungen an die Studierenden der Universität vor dem Hintergrund der Studentenproteste im Land.
Flugblatt
Die Gründung der Universität Bielefeld fiel 1969 in politisch bewegte Zeiten. Die Studentenproteste sorgten für eine deutliche Politisierung auch der Hochschulen fernab der großen Zentren der Studentenbewegung wie Berlin oder Frankfurt. An der Universität Bielefeld dominierten in der Folgezeit politisch eher linke Gruppierungen die studentische Politik, das Studierendenparlament und den Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA). Der „Sozialdemokratische Hochschulbund“ (SHB), der auf Bundesebene wenig später in Konflikt zur Mutterpartei SPD geraten sollte und in Bielefeld die erste AStA-Vorsitzende stellte, war eine der aktivsten Hochschulgruppierungen in der Bielefelder Universität.
Aber nicht nur mit dem Aufbau der „Reformuniversität“ setzte sich der SHB mit etlichen engbeschriebenen Flugblättern („Bleiwüsten“) auseinander, sondern begleitete „flugblatttechnisch“ auch die Reformpolitik der Brandt-Regierung. Als am 27. April das konstruktive Misstrauensvotum des Oppositionsführers Walter Barzel gegen Bundeskanzler Willy Brandt anstand, war der SHB getreu dem Pfadfindermotto („Be prepared!“) auf beide Ausgänge der Abstimmung vorbereitet. Auf den Mensatischen fanden die Studierenden dann unmittelbar nach der Abstimmung das „richtige“ Flugblatt.
Signatur: UABI, Kleine Sammlungen (Sammlung Johannes Risse), KS 25
Einladungskarte
Die „Reformuniversität Bielefeld“ ging 1969 betont und bewusst sachlich an den Start. Man verzichtete vor dem Hintergrund der Studentenproteste („Unter den Talaren, der Muff von tausend Jahren.“) auf Talare, auf eine Rektoramtskette, auf die seinerzeit noch üblichen traditionellen Bezeichnungen wie „Magnifizenz“ oder „Spektabilität“. Bis zur Fertigstellung des Universitätshauptgebäudes im Jahr 1976 fungierte dann auch folgerichtig eine Aufnahme der Baustelle mit Bagger und Baukränen und der Unterzeile „Aufbauuniversität Bielefeld: Der Griff nach dem Urgrund?“ als Einladungskarte des Rektors
Die Zentrale Halle der Universität Bielefeld – „Die große Halle des Volkes“
Signatur: UABI, FOS 04240
Foto: Norma Langohr/Universität Bielefeld
Der Bau des Universitätshauptgebäudes wurde aufgrund der sehr kompakten und auf den ersten Blick eher abweisend und monströs wirkenden Form aufmerksam von der Fachwelt verfolgt. Überwiegend positiv fiel dabei das Urteil über die Universitätshalle aus. Die „Bauwelt“ schrieb 1976:
„Die zweigeschossige Halle ist Haupterschließungsweg und zentrale Kommunikationsachse. An ihr liegen alle aktiven, publikumsintensiven Bereiche: sämtliche Hörsäle, das Audimax und das Schwimmbad an den beiden Kopfenden, die Mensa, Cafeterias, Läden, Bank, Post und studentische Dienste. Die Halle ist das zusammengefaßte Foyer aller Hörsäle und des Audimax, der Stauraum für die Mensa, Ladenstraße und Markt – ein Forum vielfältiger Kontakte, getragen von realen Funktionen. Sie ist die räumliche Klammer, die alle Universitätseinrichtungen, von den Natur- und Geisteswissenschaften bis hin zur Mensa und den Sporteinrichtungen, auf einer Spanne von 2,5 Minuten Weg ( = 240 m) zusammenfaßt.“
Quelle: Bauwelt, 67. Jg. (1976), Heft 10 (12. März 1976), 284-298, S. 295
Wenige Jahre nach der Fertigstellung des Universitätshauptgebäudes wurde die Universitätshalle mit dem Preis der nordrhein-westfälischen BDA-Architekten in der Kategorie „soziale Kommunikation“ ausgezeichnet:
„Der BDA-Preis Nordrhein-Westfalen 1979 „soziale Kommunikation“ wird dem Land Nordrhein-Westfalen und den Architekten BDA Dipl.-Ing. Klaus Köpke, Dipl.-Arch. Peter Kulka und Dipl.-Ing. Katte Töpper, Bielefeld, Dipl.-Ing. Wolf Siepmann, Berlin, sowie Dipl.-Ing. Helmut Herzog, Berlin, für die Zentrale Halle der Universität Bielefeld verliehen.
Die Aufgabe besteht aus der klaren Zonierung der Universität und einem linearen Kommunikationsbereich als Binnenstraße. Diese ist nach Art und Größe der ungewöhnlichen Aufgabe angemessen verwirklicht. Ihr Angebot ist von der Dimension her großzügig, beschränkt sich jedoch klar auf die Rolle eines räumlichen Rahmens, dessen Hintergrundqualität wesentliches bauliches Merkmal bildet. In der kühlen Sprache des Industriebaus kommt eine für vielfältige universitäre Ereignisse sehr wohl brauchbare Folge von Innenräumen zustande. Dabei entsprechen Dimension, Materialpalette und Details einander in hohem Maße.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Halle liegt darin, die an sich gewaltige Dimension der Universität durch Bildung einer Mitte zu gliedern und wesentliche Orientierungshilfe zu leisten.
Luhmann-Zettel
Niklas Luhmann (1927-1998), der von 1968 bis 1993 an der Universität Bielefeld forschte und lehrte, ist neben Max Weber der berühmteste und wirkmächtigste deutsche Soziologe des 20. Jahrhunderts. Seine in über dreißig Jahren kontinuierlich entwickelte Sozial- und Gesellschaftstheorie ist international herausragend und allenfalls mit den sozialwissenschaftlichen Theorien von Jürgen Habermas, Pierre Bourdieu oder Michel Foucault vergleichbar, unterscheidet sich von diesen aber durch ihre besondere Theorie- und Begriffsarchitektur, ihren Universalitätsanspruch sowie ihre interdisziplinäre Anschlussfähigkeit. Luhmanns funktionalistisch orientierte Systemtheorie stellt den konsequentesten Versuch dar, auf der Basis der philosophischen Tradition einerseits und der Rezeption der unterschiedlichsten Konzepte der modernen Wissenschaften andererseits die Grenzen der Soziologie so zu erweitern, dass eine angemessene Beschreibung der modernen Gesellschaft möglich wird.
Dieser Erkenntniswert gilt insbesondere für das Zentrum der Luhmannschen Theoriearbeit, den ca. 90.000 Notizzettel umfassenden Zettelkasten. Diese zwischen 1951 und 1996 entstandenen Aufzeichnungen dokumentieren die Theorieentwicklung Luhmanns auf eine einzigartige Weise, so dass man die Sammlung als seine intellektuelle Autobiographie verstehen kann. Darüber hinaus verfügt der Zettelkasten über eine spezifische Ordnungsstruktur, die ihn nicht nur zu der für Luhmann unverzichtbaren Theorieentwicklungs- und Publikationsmaschine werden ließ, sondern auch wissenschaftsgeschichtlich interessant macht.
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Über den Zettelkasten hat Luhmann immer wieder freimütig Auskunft gegeben, erstmals 1968 in einem Vortrag vor Studenten und später in zahlreichen Interviews; sehr Interessierte konnten den Kasten im Oerlinghauser Arbeitszimmer auch selbst bestaunen. Im Zusammenhang mit der Verfassung eines Aufsatzes (N. Luhmann, Kommunikation mit Zettelkästen. Ein Erfahrungsbericht, in: H. Baier/H.M. Kepplinger/K. Reumann (Hrsg.), Öffentliche Meinung und sozialer Wandel. Opladen, 222-228 = https://niklas-luhmann-archiv.de/bestand/literatur/item/luhmann_1981_AB46) erstelle Luhmann dann Anfang der 1980er Jahre im Zettelkasten eine kleine Notizsammlung mit Zetteln über den Zettelkasten. In dieser Abteilung benennt Luhmann die wesentlichen Gründe für die Notizsammlung und die Prinzipien, auf denen die Sammlung beruht, auf eine für ihn typische und markante Art und Weise.
Quelle der Bilder: https://niklas-luhmann-archiv.de/
Chilewandbild
Chile-Wandbild wird Denkmal
Mit der Eintragung in die Denkmalliste der Stadt Bielefeld wird das Chile-Wandbild an der Stirnseite der Zentralen Halle der Universität Bielefeld am 3. August 2025 ein „Denkmal“ im wahrsten Sinne des Wortes. Angebracht wurde das 16 Meter lange und vier Meter hohe in der Tradition des lateinamerikanischen „Muralismo“ stehende Wandbild heimlich in der Nacht auf den 12. Dezember 1976 durch die exilchilenische „Brigade Salvador Allende“ unter tatkräftiger Unterstützung der Mitglieder des Bielefelder AStA.
Fotografin: Britta Ledebur
Quelle: Universitätsarchiv Bielefeld, FOS 04241
Nach dem blutigen Militärputsch Augusto Pinochets gegen die demokratisch gewählte Volksfrontregierung Salvador Allendes vom 11. September 1973 fanden unter dem Schlagwort „Solidarität mit dem chilenischen Volk“ Diskussionsveranstaltungen, Konzerte und andere Solidaritätsbekundungen in der Universität statt. Die als Informationswand vorgesehene Stirnwand des Audimax in der Universitätshalle des gerade fertiggestellten Hauptgebäudes wurde in 14 Stunden konspirativ mit dem monumentalen Bild versehen. Vorbereitet hatte die Aktion der Bielefelder AStA. Die wandbreite Unterschrift des Murals lautet: „11. September 1973. Faschistischer Putsch: Leid, Kampf, Terror ~ Das Volk kämpft: Widerstand, Kampf, Es bildet sich die Antifaschistische Front, Die Arbeiterklasse: Motor dieser Einheit ~ Die Zukunft wird unser sein: Chile wird siegen!“
Fotografin: Britta Ledebur
Quelle: Universitätsarchiv Bielefeld, FOS 04242
Chile-Wandbild wird zum Symbol für Konfliktkultur
Allgemein wurde das Mehr an Farbe in der ansonsten tristen Halle gelobt, die Universitätsleitung aber kritisierte das unrechtmäßige Zustandekommen des Wandbilds und löste damit eine kontroverse Diskussion in den Gremien der Universität aus. Die Lösung dieses Konfliktes ist bis heute auch ein Beispiel für die konstruktive Kommunikationskultur der unterschiedlichen universitären Gruppen und die politische Kultur an der zum damaligen Zeitpunkt gerade erst gegründeten und fertiggestellten „Reformuniversität Bielefeld“. Einhellig vertrat der Senat der Universität die Ansicht, dass das Bild bestehen bleiben solle und damit zum Ausdruck gebracht werde, dass „an der Universität Bielefeld die stillschweigende Duldung des Faschismus keinen Platz“ habe.
Wenige Tage nach der Entstehung war versucht worden, das Wandbild mit schwarzer Ölfarbe zu übermalen, doch seitdem schmückte es unangetastet die Halle, bis es durch eine filmische Dokumentation und eine Feierstunde anlässlich des 35jährigen Bestehens wieder stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt wurde. Bei dieser Veranstaltung war auch der seinerzeit beteiligte chilenische Künstler Boris Eichin anwesend.
Einzigartiges Kunstwerk besonders bedeutsam
Nachdem Universitätsleitung und der Bau- und Liegenschaftsbetrieb NRW den Erhalt des Bildes bei der nahenden Modernisierung des Universitätshauptgebäudes beschlossen hatten, veranlassten „Hinweise aus der Bevölkerung“ die Denkmalbehörden dazu, über eine Unterdenkmalschutzstellung des Mural nachzudenken. Dabei stellte sich heraus, dass das Bielefelder Chile-Wandbild nach Kenntnisstand der Bezirksregierung das einzige Mural dieser Thematik in Deutschland ist, dass sich noch an seinem ursprünglichen Entstehungsort befindet. Der Bescheid über die Eintragung in die Denkmalliste hält zusammenfassend fest, dass ein öffentliches Interesse am Erhalt des Wandbildes gegeben sei, da es bedeutend für die Geschichte der Menschen sei und für den Erhalt wissenschaftliche, insbesondere historische, sowie künstlerische Gründe sprächen.
Fotografin: Britta Ledebur
Quelle: Universitätsarchiv Bielefeld, FOS 04243